Es ist ein Hin- und Herspringen, ein Rauf- und Runtersteigen, ein Schwindlig werden und nicht zuletzt ein großes Staunen, das die Besucher der aktuellen Ausstellung in der Fotogalerie WestLicht erwartet. Das Werk des Schweizer Künstlers und Wahlwieners Alfons Schilling lässt sich nicht durch die frontale Bildbetrachtung erschließen. Wer richtig sehen will muss in Bewegung bleiben. Gleich mehrere unterschiedliche Aufnahmen hat Schilling in ein Bild gepackt. Linsenraster-Fotografie nennt sich die Technik, bei der je nach Blickwinkel ein unterschiedliches Motiv fokussiert wird – alles mit 3D-Effekt. Eine Methode, die der Künstler bereits in den 60er Jahren zum ersten Mal im Rahmen einer Serie von Fotografien angewandt hat.

Zu sehen waren die Aufnahmen, die während der Demonstrationen im Zuge der Democratic Convention in Chicago 1968 entstanden, zum ersten Mal in einer Gruppenausstellung in der Richard Feigen Gallery. Von ihrer Faszination haben sie auch knapp fünfzig Jahre trotz 3D-Booms der letzten Zeit nicht das Geringste eingebüßt. Im Gegenteil, gesellt sich doch zu den Aufnahmen noch eine historisch interessante Komponente. Wer im richtigen Winkel auf die Fotos blickt, dem rücken unter anderem die in ihrem Metier richtungweisenden Pioniere Jean Genet und William S. Burroughs ins Blickfeld.

Seltsame Sehmaschinen

Wie der Vater der Beat Generation, Burroughs, dem es Zeit seines Lebens darum ging, die Wahrnehmung zu erweitern, war auch Schilling bemüht die Grenzen des menschlichen Auges zu sprengen. Zur Hilfe kamen ihm dabei diverse technische Hilfsmittel. War Schilling anfangs noch mit kleinen gekauften Prismen und Spiegeln unterwegs um einen anderen Blick auf die Welt zu bekommen, so konstruierte er Anfang der 70er Jahre seine eigenen Maschinen. Seltsam anmutende Gebilde, die in ihrer ästhetischen Qualität durchaus auch als Skulpturen wahrgenommen werden können. Bis zu vier Meter ragen die Konstruktionen in die Höhe und erinnern dabei an die Flugmaschinen Leonardo da Vincis. Ähnlich dem italienischen Renaissance-Künstler war auch Schilling in seinen Arbeiten an der Verbindung von Kunst und Wissenschaft interessiert. Die von ihm erfundenen Sehmaschinen nehmen sich wie obskure Objekte einer fremden alchemistischen Zeit aus. Beim Durchblicken werden die Abstände zwischen den Dingen verkürzt oder verlängert oder verkehren das Oben nach Unten und umgekehrt.

Einige der Apparaturen sind in der Ausstellung nicht nur zu besichtigen, sondern laden mit Hilfe eines Podestes auch zum Durchschauen ein. Nicht das einzige Mal, dass der Besucher zur aktiven Betrachtung aufgefordert wird. Aufgestellte und an der Wand angebrachte „Sehhilfen“ erlauben eine stereoskopische Betrachtung der Arbeiten Schillings.

Von der Entfesselung des Sehens

Mit seinen stereoskopischen Aufnahmen sowie mit den Bewegungsstudien knüpft Schilling an die Fotopioniere des 19. Jahrhunderts an – deren „Versuche, auf apparativem Wege neue Modi der Wahrnehmung zu generieren“ wie die Kuratoren der Ausstellung Rebekka Reuter und Fabian Knierim in ihrem Beitrag im (äußerst ansprechend gestalteten) Katalog betonen. „Damit reaktivierte er folgerichtig einen Zeitpunkt der Fotohistorie, an dem das Medium gerade noch in den Händen von Tüftlern und Alchemisten lag und das Erstaunen über die neu geschaffenen Sichtbarkeiten groß war, eine Phase also, in der die Fotografie noch nicht auf den einäugigen, zentralperspektivischen Blick geeicht war, sondern als Verfahren zur maschinengestützten Entfesselung des Sehens taugte“.

Als Bekannter des Wissenschafters Béla Julesz wusste Schilling um die räumlich-visuelle Wahrnehmung der Bilder, die erst in unserem Gehirn entsteht. Nicht umsonst sprach er bei seinen Arbeiten auch von „Brainscapes“ – von kognitiven Landschaften.

Der Künstler selbst hat immer davon geträumt im virtuellen Raum zu stehen, wie er in einem Interview mit Felicitas Thun-Hohenstein bekundete. Dass wir eines Tages virtuelle Landschaften betreten war für ihn so wie die Erfüllung vom Traum des Fliegens nur eine Frage der Zeit. Überraschend spannend!

Alfons Schilling – Beyond Photography
Noch bis 14. Mai 2017
Westbahnstraße 40
1070 Wien
Öffnungszeiten: Di, Mi, Fr 14 – 19 Uhr, Do 14 – 21 Uhr, Sa, So 11 – 19 Uhr, Montag geschlossen
Tel: +43 1 522 66 36 60
www.westlicht.com

Begleitend zur Ausstellung ist im Verlag für moderne Kunst eine aufwendige Publikation mit beigelegtem Stereobetrachter und Linsenrastercover erschienen. Mit einem Vorwort von Peter Weibel, Texten von Roland Fischer-Briand, Erkki Huhtamo, Romana Karla Schuler, Andreas Spiegl, Felicitas Thun-Hohenstein sowie den AusstellungskuratorInnen Rebekka Reuter und Fabian Knierim.

Alfons Schilling – Beyond Photography. Hrsg. v. Inés Ratz, Rebekka Reuter, Peter Coeln, Fabian Knierim. Verlag für moderne Kunst. 2017. Deutsch/Englisch

© Fotos: Nachlass Alfons Schilling

Geschrieben von Sandra Schäfer